HÜNFELDEN-HERINGEN.
Beverly Barcelona geht die geschwungene Holztreppe empor. Ihr Blick fällt auf das Fachwerk. Balken an der Decke sind freigelegt. Badezimmer, Wohnbereich, Küche - hier wohnen Maike und Raphael Schieferstein. Früher war Beverlys Familie dort daheim. Ihre Mutter Lore Lina war das jüngste Kind der Löwensteins, das in diesem Haus, Hauptstraße 32, geboren wurde.
Es fühlt sich an wie zwei Leben. Beverly und Vincent Barcelona sind aus den USA an-gereist. Der Künstler Gunter Demnig verlegt vor dem Haus Stolpersteine. Zwölf golden glänzende Quader erinnern an Menschen, die in Heringen einmal Mitbürger waren. Ju-den, die von den Nazis folgt, bedroht, vertrieben, ermordet wurden. Eine davon ist Lore Lina Löwenstein.
Beverly Barcelonas Mutter wurde im Januar 1938 geboren, steht auf dem Stein. Mit der Handykamera fotografiert die Tochter die Quader, das Haus, telefoniert mit der nun 86-Jährigen in New Jersey. So ist die Seniorin unmittelbar dabei, als sich rund 100 Gäste auf die Zeitreise begeben. Lore Lina hat überlebt, andere nicht.
Ihr Vater war einen Monat im Konzentrationslager Buchenwald, konnte später nach Brüssel fliehen. Mit ihrer Mutter kam sie in ein KZ in Frankreich. „Das Kind war da gerade mal neun Monate alt". berichtet Markus Streb. Der Historiker aus Mensfelden und Patricia Birkenfeld arbeiten mit der Dauborner Freiherr-vom-Stein-Schule zusammen. 15-, 16-Jährige treten ans Mikrofon. Sie erinnern an zwölf Menschen. deren Namen auf den Stolpersteinen stehen. Es wird intensiv.
Abraham Löwenstein wurde im September 1942 nach Theresienstadt deportiert und ermordet. Judith Mildner (geborene Löwenstein) und ihr Mann Willy hatten ein Textilgeschäft. 1939 wurde Willy in die Wehrmacht eingezogen. Seine Frau führte den Laden weiter, wurde von den Nazis wegen Urkundenfälschung verhaftet, weil sie beim Unterschreiben den Zweitnamen „Sara" nicht verwendet hatte. Diese Vorschrift war ihr nicht bewusst gewesen. Drei Monate Gefängnis, danach ein weiteres Jahr Haft ohne Begründung folgten unmittelbar. Beide überlebten die Drangsalierung. 1960, bei den Frankfurter Auschwitz-Prozessen, wünschte sich Judith Mildner. dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. "Es gab Verfahren, doch keiner hat auch nur ansatzweise eine gerechte Strafe bekommen. Wie kann man so etwas überhaupt wieder gut machen?", fragt Jule Göbel. 17 Jugendliche schildern, was war, während Markus Streb die Bilder der Menschen zeigt. Der Name Löwenstein ist allgegenwärtig: Kathinka, Rudolf, Rosa, Emmi, Siegfried, Herta - Gesichter und Biografien, die die Nazis auslöschen wollten. Der Hünfeldener Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens" hält dagegen. Emilia Arizzi (16) macht es persönlich: „Liebé Lina, lieber Abraham, heute kämpfen wir dafür, dass niemand mehr aufgrund seiner Religion verstoBen oder ausgeschlossen wird." Ihr Fazit: „So etwas darf nie wieder vorkommen. Die Vergangenheit ist Geschichte, aber die Zukunft liegt in unseren Händen." „Stell' Dir vor, Du kommst in Deutschland zur Welt, Was Ihr hier leistet, ist Beverly außergewöhnlich. Barcelona, New Jersey gehst in eine Schule, arbeitest im Betrieb Deiner Eltern, hast Freunde, gehst aus, lebst Dein Leben", sagt Duran Yücel. „Nun stell' Dir vor, jetzt auf gleich ist alles anders", ergänzt Tim Egenolf. „Du und Deine Familie werden deportiert und ermordet." Davor die Drangsalierungen. Und Du kannst nichts machen. Keiner hilft Euch." Über 100 Menschen hören diese Gedanken, mit dabei Nachfahren der Opfer wie Vincent und Beverly Barcelona, Marion Runte, Christa Beller, Gabi Steinebach-Wack, Dirk Steinebach, Christine und Jens Beller, Sven Runte, Sean Davis, Fynn Runte. Adam und Anina Barrett sind aus Brighton angereist. Die Engländer waren immer wie der einmal in Hünfelden, auch in Limburg zu Besuch. Jetzt würdigen sie ihre Angehörigen Beverly Barcelonas Handy Kamera läuft. Sie wird ihrer Mutter Bilder und kleine Filme zeigen. Den Abschlussfilm will sie sicher auch sehen. Gefördert vom Bundesprogramm "Demokratie leben!" VIDETO(Vielfalt, Demokratie, Toleranz) lässt die Gemeinde Hünfelden ein Kamerateam Einblick nehmen, Interviews mit Schülern, Nachfahren, Aktiven führen. Eine Kurzversion wird später auf der Homepage der Gemeinde veröffentlicht, eine längere denen dienen, die sich erinnern wollen oder an diesem Tag nicht dabei sein konnten. Vor der Hauptstraße 32 in He- ringen gibt es eine Besonderheit. Die Gemeinde hat dort keinen Gehweg. Das war kein Problem. Die Familie, die jetzt dort lebt, war sofort bereit, die Gedenk und Boden verlegen zu lassen", sagt Bürgermeisterin Silvia Scheu-Menzer. Maike und Raphael Schieferstein tun noch mehr. Sie öffnen ihr Haus für die Nachfahren der Opfer. Sie sind teils von sehr weit her angereist. Der Ursprung war in Heringen. Verwandte lernen sich an diesem Tag zum ersten Mal persönlich kennen. Das amerikanische Ehepaar Barcelona und die Barretts aus dem englischen Brighton haben sich vorgenommen, Kontakt zu halten. (pp) „Was Ihr hier leistet, ist außergewöhnlich", dankt Beverly Barcelona den Hünfeldenern. Die parteilose Bürgermeisterin Silvia Scheu-Menzer fasst zusammen: „Die Stolpersteine mahnen uns, die Vergangenheit nicht zu vergessen und stehen als Symbol für unsere Verantwortung, eine offene, tolerante und menschliche Gesellschaft zu fördern."